„Schau auf die Strasse. Wie können Sie so gefühllos sein gegenüber diesem Strom von Gebeinen, von Träumen, von Blut – diesem grossen Strom?“ – Nicolas Guillén
Wie an jedem Sonntag ging sie auch am 10. Dezember 2006 aus dem Haus, um an der 7. Strasse in Bogotá die Schaufenster zu bestaunen, die so sorgfältig hergerichtet sind, um glauben zu machen, Haben sei Sein. Sie ging aber auch aus dem Haus, um die Kreativität all der Arbeitslosen und ÜberlebenskünstlerInnen zu geniessen, welche sich über ihr eigenes Elend lustig machen, ZuhörerInnen und Geldstücke anlocken, und um zu versuchen, die Drohung zu vergessen, die sich Jahr für Jahr über ihr und Millionen anderer zusammenbraut: Die Nichterneuerung des Vertrages.
Auch um das dunkle und feuchte Mietzimmer zu vergessen, wo sie, ihren Sohn im Arm, die Nächte schlaflos verbringt im vergeblichen Versuch, die Erinnerungen zu verscheuchen, die sie längst begraben möchte. Dies versucht sie diesen Sonntag in der 7. Strasse, in der ein überbordender Strom von sonntäglichen Passanten anschwillt: Büromenschen, Angestellte, Arbeitslose, Hausfrauen, verliebte Paare, Familien mit ihren Kindern – einige zu Fuss, andere auf dem Fahrrad. Wie sie möchten alle die Sonne und den Weihnachtsschmuck, das Lichtermeer und die verschwendete Energie bewundern und wenigstens für einen Augenblick die täglichen Ängste und Sorgen betäuben.
Ihren Sohn an der Hand geht sie von Norden nach Süden. Plötzlich sticht ihr etwas in die Augen. Weisse Stühle. Schwarze Kleider. Schwarze Schirme. Schwarze Schleier, die von Trauer sprechen. Weisse Kreuze auf schwarzen Schürzen. Weisse Ziegelsteine aufgestellt auf dem Asphalt. Schwarze Buchstaben auf weissen T-Shirts: ¡Nunca Más! – NIE MEHR!
Es ist eine historische Ecke, wo ihre Schritte zum Stillstand kommen. Im Süden liegt der Bolivarplatz. Wie oft haben Männer und Frauen, das Herz voller Hoffnungen, zwischen Fahnen und Schreien geglaubt, dass ihre Träume von Würde, Gerechtigkeit, Freiheit wahr würden? Wie oft haben Männer und Frauen in langen Reihen gebrochenen Herzens diesen Platz Schritt für Schritt durchschritten und ihre Toten verabschiedet? Wie viele Kundgebungen aller Arten und Schattierungen, wie viele Schreie nach Gerechtigkeit, wie viel Hoffnung, Schmerz und Wut hat dieser Platz gesehen?
Im Hintergrund das Casa del Florero (Haus des Blumenstrausses), Zeuge des „Schreis nach Unabhängigkeit“ der Kreolen gegen die Spanier, das im Laufe der Zeit zu einem Zentrum der Folter und des Verschwindenlassens wurde. Gegenüber der Justizpalast, dessen rauchende Ruinen vor 21 Jahren dem Strom von Blut Tür und Tor öffneten, in dem die Träume von Millionen von Männern und Frauen ertränkt wurden, die damals an eine mögliche neue, nahe scheinende Welt glaubten. Sie alle wurden von der sich bedroht fühlenden Macht erbarmungslos angegriffen. In einer Kombination von Verhandlungen, Friedensdiskursen, Verfassunggebender Versammlung, Blut, Tod, Raub, Horror, Vertreibung, Desinformation, Verwirrung, mit Friedenstauben, Reden über den sozialen Rechtsstaat, Terror, Aufsplitterung, Verzweiflung in Weilern und Stadtvierteln des ganzen Landes öffneten sie den Weg der Globalisierung, dem bilateralen Freihandelsabkommen mit den USA (TLC) und den übrigen multinationalen Gesellschaften. Und gleichzeitig versuchten sie jede Form sozialer Organisation wegzufegen.
Fragen, die Mauern aufreissen
Der Grundinstinkt ist vorbei zu gehen, ohne zu schauen. Es sind fast immer Kinder, die fragen: „Was ist das?“, und die Erwachsenen an der Hand zu den Stühlen ziehen. Und es sind meist die Kinder, die – fast immer mit lauter Stimme – die schwarzen Buchstaben auf den weissen Ziegelsteinen lesen. Und meist folgt ihrer Lektüre die Frage: „Warum?“ Auf allen Ziegelsteinen stehen Namen, Daten und Todesformen, die es nicht geben dürfte. „Warum?“, fragt auch sie sich.
Sie geht weiter. Strasse um Strasse. Ziegelsteine und noch mehr Ziegelsteine mit Namen und Daten. „Es sind von der Guerilla ermordete Militärs“, sagt jemand an ihrer Seite. Doch plötzlich liest sie auf einem Ziegelstein: Jaime Pardo Leal, ermordet. Und weiter auf einem anderen: Luz Mary Portela, aus dem Justizpalast verschwunden; auf einem weiteren: Luis Carlos Galán, ermordet. Sie zweifelt. Auf ihrem Gesicht zeigt sich ein Hauch von Bestürzung und im Weitergehen, immer mehr Strassen hinter sich lassend, wächst der Wunsch nachzufragen.
Als sie an die 26. Strasse kommt, entscheidet sie sich. Schwarz und jung ist das Gesicht der Frau, die mit sanfter und klarer Stimme antwortet: „Mein Vater wurde von Paramilitärs verschleppt und ermordet. Mein Bruder wurde gezwungen, in ihren Reihen zu kämpfen und starb durch einen Schuss in einem Gefecht. Meine Mutter starb aus Trauer und Schmerz zwischen schwarzen Plastikplanen in dieser kalten und fremden Stadt. Darum bin ich hier. Denn ich möchte, das dies NIE MEHR jemandem zustösst. Denn ich möchte, dass es NIE MEHR Männer und Frauen gibt, die ermordet, gefoltert, zum Verschwinden gebracht, entführt, vergewaltigt, von ihrem Land vertrieben werden. NIE MEHR sollen würdige Menschen zu Bettlern gemacht werden.“
„Ich möchte, dass sich die Jungen NIE MEHR verstecken müssen, um nicht gezwungen zu werden, zu schiessen statt zu pflanzen, zu töten oder sich töten zu lassen. Darum bin ich hier. Auf diesem Stuhl. Neben diesen Ziegelsteinen, die gewaltsam entrissenes Leben bedeuten. Ich unterdrücke meine Tränen, aber ich kann meine Gedanken nicht aufhalten, die sich wie in einer Mühle drehen, mit meiner Trauer spielen und mich vom Himmel in die Hölle zu stürzen drohen.“
„Hölle, wenn ein gefühlloses Gesicht mich daran erinnert, dass nebst Land und Ressourcen auch der Geist und das Herz Schlachtfelder sind. Dass Nachrichten, Werbeslogans, Fernsehserien zusammen mit Kugeln, Gewehren und Motorsägen Teil des Arsenals sind, das uns unserer selbst berauben und mittels Manipulation und wissenschaftlich ausgearbeiteten Lügen zu verängstigten, unterwürfigen und unsensiblen Komplizen machen soll.“
„Himmel aber, wenn jemand wie Sie ihre Angst überwindet und zu fragen wagt. Himmel, wenn Ihre Augen und die Augen Ihres Sohnes sich mit Tränen füllen, wenn Sie meine, unsere Geschichte hören. Himmel, wenn ich – um ein wenig auszuruhen – den Stuhl verlasse und von meinem Platz aus die unendliche Reihe von Frauen, Stühlen und Ziegelsteinen sehe und davor unzählige gebeugte Köpfe, die die Inschriften auf den Steinen lesen und sich mit Fragen füllen.“
Sie weiss nicht, was sie sagen soll. Das „Danke“, das sie über ihre zitternden Lippen bringt, tönt schüchtern. Mit den Stunden verändert sich die Umgebung. Der Passantenstrom fliesst weiter. Auch am Nachmittag ziehen die Stühle und Ziegelsteine Blicke und Schritte an. Gegen zwei Uhr entscheidet sie sich, heim zu gehen. Aus der Ferne schaut sie zurück. Eine unendliche Reihe von Ziegelsteinen bleibt. Und ihr gegenüber – schweigend – Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche und Betagte in Fragen versunken...
Gegen vier Uhr nachmittags kommt sie zum Bolivarplatz. „Wir möchten leben, wir möchten produzieren, wir möchten essen“, sagt eine betagte Indígena, deren Stimme vom Wind weggetragen wird. In ihrer indigenen Sprache ruft sie die Götter an. Sie bittet sie um Kraft und Klugheit, um die tödliche Lawine aufzuhalten, die Land, Frauen und Männer auslöscht. Der Abend legt sich über die Hügel.
Indígenas, Bauern und Bäuerinnen, Frauen und Männer in weissen T-Shirts mit den schwarzen Buchstaben Nunca Más – NIE MEHR, zirkulieren auf dem Bolivarplatz und seiner Umgebung im Kreis. Sie begleiten klatschend den langsamen Rhythmus von Flöten und den Schritt der blossen Füsse an der Schlusszeremonie dieses Tages, der Risse in die Mauer der Straflosigkeit, der Desinformation, der Gleichgültigkeit und der Angst schlagen will.
Inmitten der Frauen und Männer mit den weissen T-Shirts kommen und gehen grün gekleidete Männer und Frauen mit Waffen am Gurt, Funkgerät und Mobiltelefon. Wie viele Namen der Menschen in Weiss werden auf einem Ziegelstein stehen, mit einem Datum, einem Ort und einer Todesart, die es nicht geben dürfte? Diese Frage steigt auf, wenn man das Polizistenpaar beobachtet, das mit seinem Mobiltelefon Fotos von lächelnden Gesichtern und Blicken macht und Lieder aufzeichnet.
Sie sieht sie nicht. „Am nächsten Sonntag schauen wir uns die Weihnachtsbeleuchtung an“, verspricht sie ihrem Sohn, als sie vom Bolivarplatz weggehen. Ihre Finger durchwühlen in der Tasche die Flugblätter, die sie eingesammelt hat und in denen sich vielleicht eine Adresse und der notwendige Mut findet, um jemandem ihre Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte, die sie nachts als Albtraum überfällt. Diese Geschichte, die den Sohn zum Halbwaisen und sie zur Flüchtlingsfrau gemacht haben, die ihre Angst in der Menge versteckt.
[aus: Kolumbien-aktuell, No. 444, 24. Januar 2007 -- Übersetzung aus dem kolumbianischen Spanisch: Bruno Rütsche, von mir leicht redigiert]
Saturday, 27 January 2007
Soziale Bewegungen: Von Frauen, Ziegelsteinen, Schleiern und Stühlen...
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