Thursday 26 April 2007

Kolumbien: Die Suche nach Massengräbern dauert bereits ein Jahr

Guten Tag!

Grauenhafte Nachrichten: in Kolumbien wird nach 10'000 bis 31'000 verschwundenen Toten gesucht.

Heute sehe ich mich schlicht gezwungen, mit Dir, mit Ihnen, die grässlichen Nachrichten zu teilen, die mich heute aus meinem vielgeliebten Kolumbien erreicht haben. Leider gemahnen mich gewisse Neuigkeiten schon länger an Gräueltaten, die von den Nazis von Hitler, Mussolini und Franco -- von ähnlichen Verbrechen jüngeren Datums ganz zu schweigen -- verübt worden sind. Jetzt aber gibt es dafür noch handfestere Indizien.


El Tiempo, die grosse, unabhängige kolumbianische Tageszeitung, berichtet in ihrer Ausgabe vom 24.4.07 im Teil "Justicia" ("Recht") über Zehntausende von verschwundenen Toten, nach denen gesucht wird. Abgesehen von dieser traurigen Tatsache ist es ein Skandal, dass offenbar niemand in der classe politique sich um den Schmerz der Hinterbliebenen kümmert, die seit Jahrzehnten, seit Monaten, Wochen nach ihren Lieben suchen, und dass die Verbrecher nicht verfolgt werden.


Hier der Link zum vollständigen Artikel (auf spanisch): http://www.eltiempo.com/justicia/2007-04-24/ARTICULO-WEB-NOTA_INTERIOR-3525023.html


Und so beginnt der Artikel von Luz María Serra, Redaktionsleiterin:

"EL TIEMPO hat sich ins Herz dieser Suche begeben, die vor einem Jahr begonnen hat. Bisher hat man 533 Leichen gefunden, von denen aber bloss 13 aufgrund von DNS-Untersuchungen und 173 aufgrund von Kleidungsstücken haben identifiziert werden können.

"Es sind schreckliche Fakten zutage getreten: Paramilitärs erteilten Kurse im Zerhacken menschlicher Körper; die "Aguilas Negras" ["Schwarze Adler", eine seit der sog. Entwaffnung der Paramilitärs in den Jahren 2005/06 entstandene rechtsradikale Gruppierung, die sich eines Nazivokabulars und offenbar auch Nazi-ähnlicher Methoden bedient] graben die Leichen aus und werfen sie in die Flüsse; die [Angehörigen der] Opfer sind nach wie vor verängstigt und eingeschüchtert.

"Keine Antworten

[Neben diesem Text findet sich auf der oben angegebenen Website eine Foto des Generalprokurators. Sie zeigt von der Erde gebräunte Unterschenkelknochen, die noch in Socken und Frauenschuhen stecken. Es ist offensichtlich, dass die Beine abgeschnitten oder abgesägt wurden. Ich habe keinen Zweifel, dass es sich hier um die Spuren eines Verbrechens handelt.]

"Wem gehören diese Schuhe? Wer war sie? Weshalb hat man sie getötet? Wird sie vielleicht von einer alten Frau gesucht, die sich mit Erinnerungen an eine verlorene Tochter quält? ¿Oder sucht sie vielleicht niemand mehr?

"Dies sind nur einige von vielen möglichen Fragen, die diese Foto von einem Massengrab bei Facatativá (Cundinamarca) aufwirft. Seit den letzten Kriegsjahren sind in Kolumbien 10'000 bis 31'000 Personen spurlos verschwunden (die erste Zahl stammt vom Büro des Generalprokurators, die zweite von der Kolumbianischen JuristInnenkommission [Comisión Colombiana de Juristas]).

"Im ersten Jahr der Suche nach Massengräbern hat das Büro des Generalprokurators 3'710 Hinweise auf mögliche Orte erhalten; allerdings konnten infolge Geld- und Personalmangel nur die wenigsten Stellen untersucht werden: 533 Leichen wurden gefunden. Doch nur 13 von ihnen konnten aufgrund ihrer DNS klar identifiziert werden; weitere 173 wurden vorläufig identifiziert (aufgrund von Kleidungsstücken, Tätowierungen usw.).

"Sie erteilten Unterricht, wie man Menschen zerhackt

"Als wir von EL TIEMPO uns entschlossen, einen Sonderbericht zum Thema Massengräber zu machen, wiederholte sich auf unserer Redaktion immer wieder die gleiche Szene: einer nach der anderen kehrten die ReporterInnen geschockt von ihrer Arbeit zurück.

"Nur wenige Informationsprojekte haben uns im gleichen Mass erschüttert wie dieses; uns fehlen die Worte, darüber zu berichten: wegen der entsetzlichen Methoden, derer sich die Mörder bedient haben; wegen des unstillbaren Schmerzes der Familienangehörigen der Opfer; doch – vielleicht am meisten – wegen des Gefühls, dass dieses Unterfangen unser Land zum jetzigen Zeitpunkt völlig überfordert. Wird es überhaupt möglich sein, eine signifikante Anzahl Leichen zu exhumieren und zu identifizieren und damit wenigstens ihren Angehörigen Gewissheit zu geben? Wird es möglich sein, die nötige Trauerarbeit zu leisten, auf dass Kolumbien nicht in eine dritte Phase extremer Gewalt versinke?

"Die Zeugenaussagen der Paramilitärs und die Funde der gerichtsmedizinischen Teams lassen folgenden Schluss zu: Die Vereinigten Selbtsverteidigungskräfte Kolumbiens [AUC–Autodefensas Unidas de Colombia, die grösste und berüchtigtste Gruppierung von Paramilitärs] entwickelten nicht nur eine Methode zum Zerhacken von Menschen; sie erteilten sogar Unterricht in dieser Methode, wobei sie lebende Menschen als Versuchspersonen missbrauchten, die sie in ihre Trainingscamps verschleppt hatten."

[...]

"Eines der grossen Probleme ist, dass dieses Thema den entscheidenden Nerv des Landes nicht zu treffen scheint. 'Es ist, als wäre nichts geschehen. Wir finden Massengräber, doch das Land scheint nichts dabei zu fühlen,' beklagt sich einer der mit Exhumierungen beauftragten Staatsanwälte. Und María Victoria Uribe, die Anthropologin, die das Land über die mörderischen 1950er-Jahre aufgeklärt hat, fügt bei: 'Die obere Klasse von Bogotá schert sich einen Teufel um 15 Leichen, die man in Sucre gefunden hat.'

"Im früheren Jugoslawien, zum Beispiel, wurde eine DNS-Datenbank eingerichtet, aufgrund derer 10'000 Opfer identifiziert werden konnten. In Kolumbien gibt es zwar ein paar wenige Anstrengungen (so wurde ein Suchplan genehmigt, und Ende 2006 wurde das Team der Staatsanwaltschaft von einem Spezialisten auf drei erhöht, denen zudem acht Anwälte zur Seite gestellt worden sind), doch bisher ist das Vereinheitlichte Verschwundenenregister nicht vollständig, das von Gesetz wegen seit dem Jahre 2000 bestehen sollte, und die Exhumierenden müssen sich zuweilen sogar in den Ausgrabungsstätten wie in Schützengräben gegen bewaffnete Gruppen schützen.

"[...] Das Thema würde es verdienen, [...] in den Entwicklungsplan (Plan de Desarrollo) aufgenommen zu werden. Doch bisher ist nichts dergleichen geschehen.

"[...]"


Mit dem folgenden Abschnitt endet der Artikel:

"Das Büro des Generalprokurators (Fiscalía General) veröffentlicht auf einer Website Fotos von Kleidungsstücken, auf die man bei Knochenfunden in Massengräbern gestossen ist. Der Link zu diesem Museum der Schande ist: http://www.fiscalia.gov.co/justiciapaz/index.htm"



Es ist mir schwer gefallen, diesen Artikel zu lesen und für Dich, für Sie ins Deutsche zu übersetzen. Aber ich bin überzeugt, dass wir das Wissen über diese Verbrechen "sozialisieren" und unsere Stimme dagegen erheben müssen, damit niemand sagen kann, wir hätten es nicht gewusst – das hatten wir ja während und nach dem 2. Weltkrieg schon einmal!


Ich möchte mit diesem Beitrag auch meine Unterstützung und meine Hochachtung für die JournalistInnen und ReporterInnen von El Tiempo ausdrücken. Mein Respekt für sie ist riesig. Ich hoffe, dass sie die Kraft haben, ihre Arbeit weiter zu führen.