Monday 8 January 2007

Buenaventura: Eine vom Schweigen belagerte Stadt

Kolumbien – Monatsbericht

Januar 2007 No. 1/2007



Buenaventura: Eine vom Schweigen belagerte Stadt



Von Bruno Rütsche



Buenaventura ist die wichtigste kolumbianische Hafenstadt am Pazifik. Ein enormer Reichtum fliesst durch den Hafen. Durch die Stadt selbst zieht sich aber eine Spur des Elendes, der Gewalt und der Korruption. Angesichts der Schutzlosigkeit der Bevölkerung gegenüber den Bewaffneten – Paramilitärs, Armee und Guerilla – wagt kaum jemand das Schweigen zu brechen und die unzähligen Verbrechen anzuklagen.



Ein verzweifelter Aufruf...


„Gestern, als ich in der Sonntagsmesse das Evangelium zu lesen begann, bemerkten wir rasche Bewegungen auf der Strasse. Wir schlossen die Türe und hörten Schüsse aus Maschinenpistolen. Einige Schüsse drangen durch die Gitter in die Kirche ein. Wir warfen uns alle zu Boden und krochen zum Pfarrhaus... Etwa eine Stunde später verliessen die Gläubigen das Pfarrhaus und getrauten sich auf die menschenleeren Strassen. Es war ein Gefecht zwischen Guerilla und der Polizei.

Am darauf folgenden Samstag verletzten die Paramilitärs nach der Messe drei Passanten. Zwei davon sollen gestorben sein, der dritte, ein geistig Behinderter mit dem Spitznamen ‚Der Denker’, hat bis jetzt die Operationen überlebt.

Und vor acht Tagen, als die MalerInnen von San Cipriano ein wunderschönes Wandgemälde malten, wobei viele Kinder ihnen zuschauten, wurden auf einer Seite der Kirche zwei Männer getötet, welche seit dem Morgen bewaffnet da waren und zusammen mit anderen tranken... Ich hatte eine halbe Stunde zuvor die Polizei angerufen, doch sie war nicht gekommen.

So ‚feiern’ wir den Advent. Heute gibt es keine Messe, die Kirche bleibt geschlossen, das Pfarreibüro verriegelt, denn man hat uns gewarnt und gesagt, dass diese Nacht das Morden weiter geht.... Alle Strassen des Stadtviertels Lleras sind verlassen und alle Häuser und Läden verschlossen...

Wir werden sehen, wie dies weiter geht. In diesen Vierteln sind beide Gruppen (Paramilitärs und Guerilla) präsent und das Meer hat Ebbe in diesem umstrittenen Gebiet, das sich derart für den Drogenhandel eignet.“ Dies sind die verzweifelten Worte des Priesters Ricardo Londoño, Pfarrer des Viertels Lleras.


...und Todesdrohungen gegen den Bischof


Am 26. Oktober 2006 besuchte Präsident Uribe Buenaventura und nahm dort an einem Sicherheitsrat teil. Der Besuch des Präsidenten begann mit einem Eklat: Er forderte Chipantiza, den Sekretär des Bürgermeisters von Buenaventura auf, den Saal zu verlassen und beschuldigte ihn, versucht zu haben, den Militärkommandanten zu bestechen und zur Rückgabe einer konfiszierten Drogenladung zu bewegen. Chipantiza wurde sofort verhaftet, wenig später aber aufgrund einer fehlenden Anklage aus der Haft entlassen. – Am gleichen Anlass klagte der Bischof von Buenaventura, Monseñor Héctor Epalza, die Korruption der Sicherheitskräfte und ihre Verbindungen mit dem Drogenhandel an. Er sagte damit öffentlich, was alle längst wissen. Wenige Tage später sah er sich aufgrund der Todesdrohungen gezwungen, die Stadt zu verlassen. Erstaunlicherweise führte dies auch in kirchlichen Kreisen zu keinen Protesten. Auch die Bischofskonferenz blieb still und machte sich damit zur schweigenden Komplizin. – Wenn selbst ein Bischof aufgrund einer Aussage flüchten muss, um sein Leben zu retten, was haben dann einfache BürgerInnen zu erwarten, die sich getrauen, Anklagen zu erheben?

Keine Zeit für die Flucht liessen die Mörder Deisi Ruth Calonge, die bei der lokalen Ombudsstelle zuständig für die Rechte der Familien war. Die Frau wurde in ihrem Büro am 11. September 2006 ermordet. Sie hatte sich geweigert, die Freilassung von drei Jugendlichen zu veranlassen, wie es eine bewaffnete Gruppe von ihr gefordert hatte.


Vom Reichtum des Hafens bleibt nichts in der Stadt


Durch den Hafen Buenaventuras fliesst 46% des Aussenhandels. Im Jahr 2005 wurden 11 Mio. Tonnen Güter im Überseehafen verladen. 1'600 Frachter löschten im gleichen Jahr ihre Fracht und wurden mit Exportgütern beladen. Selbst die 3'000 bis 4'000 Hafenarbeiter können kaum von ihrem Lohn leben und die Arbeitsbedingungen sind hart und gefährlich. Seit der Privatisierung des Hafens im Jahr 1994 sind 24 Arbeiter bei Unfällen oder aufgrund eines natürlichen Todes während der Arbeit gestorben und über 60 Arbeiter erlitten bleibende Behinderungen. Es kam in dieser Zeit zu mehr als 350 Arbeitsunfällen. Keine der betroffenen Familien erhielt eine Entschädigung. Am meisten verdienen die Kranführer mit Löhnen zwischen rund 500'000 – 800'000 Pesos (220 – 350 US$) in 14 Tagen, wobei allerdings wieder über 100'000 Pesos Abzüge kommen. Ihnen folgen die Träger mit rund 300'000 – 400'000 Pesos in 14 Tagen, welche mit purer Körperkraft die Fracht ein- und ausladen. Doch viele Arbeiter kommen nicht einmal auf 200'000 Pesos, womit sie unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Minimallohn bleiben.

Rund 2'000 Sattelschlepper befahren täglich die Strasse von Buenaventura nach Cali, beladen mit Gütern für den Export oder importierten Waren. Doch von diesem Reichtum ist nichts sichtbar in dieser feuchtheissen Stadt am Pazifik. Die Stadtviertel wuchern ohne jede Planung an den Rändern der Stadt in den Urwald hinein. Armselige Siedlungen, oft ohne fliessendes Wasser, Abwasserentsorgung und Strom. Bei einigen Invasionen haben die Paramilitärs ihre Hände im Spiel. Vor allem wenn es um Gebiete geht, welche an das Meer angrenzen. Rund 500'000 EinwohnerInnen zählt die Stadt nach offiziellen Angaben. Verlässliche Quellen geben zu bedenken, dass rund ein Fünftel der BewohnerInnen bei der Volkszählung gar nicht erfasst wurde. Auf 10'000 EinwohnerInnen kommen zwei Ärzte; ein Fünftel der BewohnerInnen sind Analphabeten und die Lebenserwartung in der Stadt beträgt ganze 51 Jahre.

Rund 60% der arbeitsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos. Da ist die Versuchung gross, sich im Drogenhandel etwas zu verdienen. 300'000 Pesos (rund 130 US$) werden für den Transport von chemischen Substanzen angeboten, die zur Herstellung von Kokain benötigt werden. Eine Million Pesos (rund 438 US$) gibt es für den Transport von Kokain auf die im Hafen ankernden Schiffe und 20 Mio. Pesos (rund 8753 US$) für die Fahrt in Schnellbooten nach Mexiko und Guatemala, den wichtigsten Bestimmungsorten des Kokains. „Die Jungen verkaufen ihr Herz für ein paar Pesos an die Drogen. Das Traurigste daran ist, dass sie dabei nicht einmal reich werden. Sie sind nur das Glied in dieser Drogenkette, welches am meisten riskiert – das Leben – und am wenigsten verdient“, klagt eine Mutter, deren Sohn vor einem halben Jahr getötet wurde.[i]


Der Kampf um die Kontrolle der Stadt: Ein Genozid


Nach Aussagen von sozialen Organisationen sind seit 1998 über 4'000 Menschen in Buenaventura ermordet worden. 1998 hatte ein Zivilstreik den Hafen fünf Tage lang lahm gelegt. Der Streik richtete sich gegen die unhaltbare soziale Situation der Stadt und die hohe Verschuldung. Ein mit der Regierung vereinbartes Abkommen sah u.a. die Schaffung von Arbeitsplätzen und Schulen und die Verbesserung der Infrastruktur vor. Bitter vermerkt eine soziale Führungsperson: „Wäre das mit der Regierung ausgehandelte und von ihr unterzeichnete Abkommen wirklich umgesetzt worden, sähe unsere Stadt heute anders aus und wir stünden nicht diesen Problemen gegenüber.“ Wie üblich blieb auch dieses Abkommen uneingelöst.

Dafür verstärkte sich der Einfluss der bewaffneten Akteure auf die Stadt, Paramilitärs im Verbund mit der Armee auf der einen Seite und Guerilla auf der anderen. Dies nicht zuletzt, weil der Hafen durch die Öffnung gegenüber dem Pazifikraum (China, Japan) an Bedeutung gewann und immer klarer wurde, welche Rohstoffe die Pazifikküste selber barg. Dann aber ging es auch um die Kontrolle der Drogenrouten. Und wo Drogen gehandelt werden, ist auch der Waffenhandel nicht fern. Buenaventura mit den vielarmigen, schwer kontrollierbaren Buchten und dem wichtigen Überseehafen spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Die Stadt wurde militarisiert. Auch heute ist in Buenaventura die Präsenz der Sicherheitskräfte unübersehbar. Zu mehr Sicherheit hat dies nicht geführt. Im Gegenteil, die Zahl der Morde hat dramatisch zugenommen. Der Bloque Calima der Paramilitärs setzte sich in der Stadt fest und übernahm immer mehr die Kontrolle über die Stadtviertel und die Zugänge zum Meer. Aber auch die 30. Front der FARC war mit Milizionären in der Stadt präsent und wollte ihren Einfluss nicht preis geben. Armee und Sicherheitskräfte, Paramilitärs und Guerilla machten sich die Kontrolle der Drogenausfuhr – und der Waffeneinfuhr – strittig. Alle bewaffneten Akteure wollten die Stadtviertel und den Zugang zum Meer kontrollieren und Jugendliche rekrutieren. Aufgrund der desolaten sozialen Situation und dem Fehlen jeglicher Perspektive hatte diese Verlockung – wie auch die Versuchung des „leichten Geldes“ durch den Drogenhandel – eine gewisse Macht.

Auch nach der vermeintlichen Demobilisierung des Bloque Calima ist die Präsenz der Paramilitärs weiterhin allgegenwärtig, wenn auch diskreter. „Die Demobilisierung ist blanker Hohn“, wird oft versichert. Die Nähe von Paramilitärs und Sicherheitskräften ist vielfach belegt und im Alltag offensichtlich. Heute üben die Paramilitärs eine soziale, politische und wirtschaftliche Kontrolle aus, die weit über den Drogenhandel hinaus geht. So erheben sie auf die Markstände Steuern. Und die Mordrate ist keineswegs kleiner geworden.

Längst nicht alle, die in diesem schmutzigen Krieg fallen, haben etwas mit den bewaffneten Akteuren oder Drogen zu tun. Besonders schmerzlich zeigte dies das Massaker an 12 Jugendlichen und dem Verschwindenlassen von weiteren zwölf am 19. April 2005. Ein Mann fuhr auf einem Motorrad vor und lud 24 Jugendliche zu einem Fussballspiel ein. Der Gewinnermannschaft wurden 200'000 Pesos in Aussicht gestellt. Zwei Tage später wurden 12 Jugendliche – alle zwischen 15 und 22 Jahre alt – gefesselt, gefoltert, mit Säure verätzt und durch einen Schuss in den Nacken getötet in einer Bucht im Viertel El Triunfo aufgefunden. Von den anderen 12 Jugendlichen fehlte – und fehlt bis heute – jede Spur. Keiner der Jugendlichen hatte etwas mit den bewaffneten Akteuren oder mit Drogen zu tun. Im Gegenteil: Einige der Jugendlichen waren in sozialen Organisationen aktiv und hatten zwei Wochen vorher an einem Protestmarsch des Viertels teilgenommen, wo der Bau einer Fussgängerbrücke gefordert worden war. Vier der ermordeten Jugendlichen waren zudem Neffen eines bekannten sozialen Führers aus dem Fluss Yurumanguí, dessen Familie systematisch bedroht und ermordet wurde. Aufgrund der völligen Straflosigkeit und der Untätigkeit der kolumbianischen Behörden wurde der Fall der Interamerikanischen Menschenrechtskommission unterbreitet und um Schutzmassnahmen nachgesucht.

Das abscheuliche Massaker führte zu einem Aufschrei in der Stadt. Doch seither gehen die selektiven Morde und Massaker weiter. Nach offiziellen Angaben sind zwischen 2000 und 2005 insgesamt 2644 Personen ermordet worden. Allein im Jahr 2006 wurden bis zum 11. November 305 Morde registriert. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiss niemand. (Eine andere Quelle verzeichnet 435 Morde.) Und auch über die Zahl der Verschwundenen schweigen sich alle aus. Sie ist hoch, sehr hoch, aber niemand wagt sie auch nur zu schätzen. „Die Angst hat diese Stadt fest in ihrem Griff. Und die Angst macht, dass alle schweigen.“ Dies sagen viele. „Hier kannst du niemandem trauen. Wie kannst du eine Anzeige bei der Polizei machen, wenn du weisst, dass die Polizei selber den Paras mitteilt, wer die Anzeige eingereicht hat?“ gibt eine Frau zu bedenken. Es wird von entlegenen Buchten geredet, wo Verschwundene an den Bäumen aufgehängt werden, den Geiern zum Frass. Der Zugang zu diesen Orten werde von den Sicherheitskräften verwehrt. Auch seien Buchten bekannt, wo Tote ins Meer geworfen würden.

Einen neuen, bisher unvorstellbaren Höhepunkt erreichte die Gewalt im September 2006, als auf einen Beerdigungszug geschossen wurde. Fünf Personen starben, weitere wurden verletzt. Für die Menschen in Buenaventura war dies ein Schock, von dem sie sich kaum erholen konnten. Der Respekt vor der Trauer und der Solidarität der Familie mit dem Toten ist den Schwarzen heilig. Dies nicht mehr zu respektieren, wird als Angriff der Bewaffneten auf ihre Identität verstanden.

Die Bevölkerung ist dieser Situation schutzlos ausgeliefert. Auch die Presse wird zum Schweigen gebracht. Der Journalist William Soto Cheng wurde ermordet. Andere mussten die Stadt aufgrund der Drohungen verlassen – so wie Tausende von Vertriebenen, die aufgrund der Gewalt die Stadt und deren Umgebung verlassen mussten.

Buenaventura ist heute wohl eine der Städte Kolumbiens – und der Welt – mit der höchsten Gewaltrate, vielleicht vergleichbar mit Medellin Ende der 80er und anfangs der 90er Jahre. Allerdings mit dem grossen Unterschied, dass sich das Drama in Buenaventura unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit abspielt. Es ist kein Thema in der kolumbianischen noch internationalen Presse. Die Angst und das Schweigen halten die Stadt in ihren tödlichen Klauen. Wer dagegen verstösst, lebt gefährlich.


Buenaventura zeigt die Fratze der Globalisierung: Der Kampf um die Kontrolle eines wichtigen Hafens und von Handelsrouten wird auf dem Buckel unbeteiligter Zivilpersonen. Vom Reichtum, der durch diesen Hafen fliesst, bleibt in der Stadt nur die Spur von Elend, Gewalt, mafiöser Strukturen und Korruption.



[i] Der Bericht beruht auf Gesprächen bei meinem Besuch im Oktober 2006 in Buenaventura. Ebenso dienten als Quellen Berichte der Comisión Intercongregacional Justicia y Paz; des Proceso de Comunidades Negras PCN, El Espectador, 10. Sept. 06; El Tiempo, 8. Nov. 06 ; Revista Semana ; Diario Las Américas, 13. Nov. 06; Semanario Virtual de Viva la Ciudadania


Bruno Rütsche
ask Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien
Fachstelle Frieden und Menschenrechte
www.askonline.ch

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