Tuesday, 14 November 2006

Wenn Unrecht zur Regel wird... – Bericht aus einem zerrissenen Land

Kolumbien-Monatsbericht, November 2006, No. 11/2006

Wenn Unrecht zur Regel wird...
Eindrücke und Bericht aus einem zerrissenen Land

Von Bruno Rütsche [Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, Link s. nebenstehende Spalte]

Auf meiner Kolumbienreise im Oktober bin ich diesem Phänomen – Unrecht als Regel – auf Schritt und Tritt begegnet. Aber auch das andere Kolumbien habe ich erlebt: Die ungebrochene Kreativität, Spontaneität, die Herzlichkeit und den unbändigen Überlebenswillen von Indigenen, Schwarzen, Bauern, Frauen, Vertriebenen. In gemeinschaftlichen Prozessen setzen sie sich gegen alle Widerstände für ein anderes, ein lebbares Kolumbien ein. Sie sind die Hoffnung in diesem Land, auch wenn sie systematisch totgeschwiegen, verleumdet, verfolgt und gewaltsam zum Schweigen gebracht werden.


Besuch in Cali beim Kulturzentrum El Chontaduro in Aguablanca

Ich reise mit dem Koordinator des schweizerischen Friedensförderungsprogramms Suippcol, Peter Stirnimann. Die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien ask hat dieses Programm wesentlich mitgestaltet und ist auch in der Trägerschaft vertreten. Das Programm stärkt die zivilge-sellschaftlichen Friedensinitiativen und will Frieden von unten aufbauen.
Wir sind zu den Feierlichkeiten 20 Jahre Kulturzentrum El Chontaduro eingeladen. Das Zent-rum ist heute ein wichtiger kultureller Referenzpunkt im enormen Elendsgürtel mit dem eu-phemistischen Namen Aguablanca – weisses Wasser. Es bietet Aktivitäten für Kinder, Ju-gendliche und Erwachsene an. Es gibt Theater-, Tanz-, Musikgruppen, eine Bibliothek, und jährlich findet eine Kulturwoche statt. Das Zentrum ist Zeichen einer unablässigen, hartnäcki-gen, alltäglichen Kleinarbeit in schier unmöglichen Verhältnissen von Armut und Elend, von verbreiteter Grossstadtanonymität, Unsicherheit und Gewalt. Die Abschlussveranstaltung mit Tanz- und Musikgruppen auf dem nahegelegenen Sportplatz wurde zu einem eindrücklichen und friedlichen Volksfest für Hunderte von Zuschauerinnen und Zuschauer. Eine Oase der Friedfertigkeit, der Mitmenschlichkeit, der Begegnung und der Hoffnung inmitten einer Stadt, die immer mehr in Chaos und Abfall versinkt.


„Reisen Sie unbesorgt, die Armee kontrolliert die Strassen!“

Spruchbänder mit dieser Aufschrift begegnen uns immer wieder auf unserer Fahrt von Cali nach Buenaventura an der Pazifikküste. Und die Präsenz der Armee ist denn auch unüberseh-bar: Auf dem letzten Teilstück vor Buenaventura stehen schwerbewaffnete Soldaten in den Türen oder vor den armseligen Hütten. Sie haben sich – in Verletzung des Humanitären Völ-kerrechtes – einfach bei den Leuten entlang der Strasse einquartiert. Damit werden diese Fa-milien dem Risiko eines Guerillaangriffs ausgesetzt. Ihr Recht, nicht in den Konflikt involviert zu werden, ist für Präsident Uribe Makulatur. Für ihn gibt es in Kolumbien keinen be-waffneten Konflikt, nur Kampf gegen den Terrorismus. – Recht wird verdreht, Unrecht zur Norm.

In Buenaventura führen wir Gespräche mit verschiedenen Basisorganisationen. Vor allem die Frauen berichten von konkreten Menschenrechtsverletzungen, von Morden, Verschwinden-lassen, willkürlichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, der Kontrolle durch die ver-meintlich demobilisierten Paramilitärs, ihrer Eintreibung von „Steuern“ und ihrer Infiltration bei Polizei und Armee, wie auch der Präsenz von Milizionären der Guerilla. All dies schafft ein Klima von generalisierter Unsicherheit und Angst. Dies inmitten einer fast vollständigen Militarisierung dieser wichtigsten Hafenstadt, durch den ein Grossteil der Exporte – auch von Kokain – und Importe – auch Waffen – fliessen. Einmal mehr bestätigt sich die Binsenwahr-heit, dass nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Verbrechen überhaupt angeklagt und bekannt wird: Wir hören Zeugenaussagen über entlegene Buchten, wo Leichen von Ermordeten ins Meer geworfen werden; über direkte Einschüchterung von ZeugInnen, die Aussage erstatten wollten; über Massaker, die nie an die Öffentlichkeit gelangten. Die Angst ist allge-genwärtig: „Wir haben Angst, das Haus zu verlassen, zu sprechen, uns zu bewegen, uns zu organisieren, Anzeige zu erstatten. Ja nicht einmal mehr grüssen kann man mehr, denn sofort heisst es, du seiest Kollaborateur der einen oder der anderen.“ Schätzungsweise 4000 Men-schen sind seit 1998 in Buenaventura völlig straffrei ermordet worden. Und über die Zahl der Verschwundenen wagt niemand Angaben zu machen. Sie ist hoch, sehr hoch. Jedes Wochen-ende werden rund 10 Morde verübt. Die Gewalt kennt keine Grenzen: Bei einem Beerdi-gungszug wurde auf die Trauernden das Feuer eröffnet. Fünf Personen starben, weitere wur-den verletzt. In der Kosmovision der Schwarzen ist dies ein Sakrileg. Die Totenwache und die Solidarität mit der Trauerfamilie ist heilig. Der Schock über diesen Angriff sitzt tief.


Die Pazifikküste im Würgegriff fremder Interessen

Wir reisen gute fünf Stunden im Boot südwärts der Küste entlang und dann den Naya-Fluss hoch. Doch was wir hier sehen und zu hören bekommen, gilt für die ganze Pazifikküste. Der Druck auf die Bevölkerung und die Region ist enorm: Megaprojekte (hier soll u.a. eine Aqua-pista von Tumaco nach Buenaventura quer durch die Mangrovenwälder gebaut werden); Prä-senz von Armee, Paramilitärs und Guerilla; Verminung von Gebieten; illegaler Holzraubbau; Projekte zum Abbau von Bodenschätzen und zum Anbau von Ölpalmen. Kommt der Kokaan-bau dazu, dann beginnt endgültig der Teufelskreis von Holzschlag, Vergiftung von Böden und Flüssen durch die Chemikalien zur Herstellung von Kokapaste, Kriminalität, Alkohol, Pros-titution, Gewalt, Einzug mafiöser Strukturen, Präsenz bewaffneter Akteure, Spaltung der Ge-meinschaften, Erpressbarkeit, Pestizidbesprühungen und Enteignung des Landes. Vieles davon ist am Naya spürbar: Im Oberlauf wird breit Koka angebaut; kontrolliert wird das Gebiet von der FARC. Auch die ELN-Guerilla ist präsent. Zwischen den beiden Guerillaverbänden kommt es immer wieder zu Gefechten.
In der Karwoche des Jahres 2001 war es am Naya zu einem Massaker gekommen, bei dem nach Aussagen von Bewohnern mindestens 120 Zivilpersonen und eine unbekannte Anzahl von Paramilitärs und Guerilleros starben. Die Armee eilte den in Bedrängnis geratenen Para-militärs mit Schnellbooten zu Hilfe und evakuierte sie – nach einem Scheingefecht – nach Buenaventura.

Ähnlich sieht es am Fluss Tumutumbudó im Gebiet des Oberlaufs des Atrato-Flusses im Dep. Chocó aus. Wir fahren eine gute Stunde im Jeep, dann etwa zwei Stunden in einem Boot flussaufwärts, begleitet von einer Frau des Consejo Comunitario und einer Schwester der So-zialpastorale der Diözese von Quibdó. Die rund 30'000 BewohnerInnen von 56 Gemein-schaften am Oberlauf des Atrato und dessen Nebenflüssen haben sich in der COCOMOPOCA zusammengeschlossen und fordern seit 1998 vergeblich ihren kollektiven Landtitel ein. Die Leute von Porto Moreno, einer Ansammlung einiger enger und armseliger Häuser, haben ihre Vermutungen, weshalb ihnen kein Landtitel zuerkannt wird: „Dieses Gebiet ist reich an Mineralien und Erdöl. Präsident Uribe selber hat gesagt: ‚Auch wenn jedem Forscher nach Bodenschätzen ein Leibwächter zugeteilt werden muss, die Suche und Ausbeutung der Bodenschätze geht weiter!’ Wir sind nur Störfaktor in diesen Plänen. Darum will man uns weg haben!“ Viele Gemeinschaften leiden Hunger. Sie können ihre Pflanzgebiete nicht mehr bestellen, da sie vermint wurden. Ab 18.00 Uhr herrscht „Ausgangssperre“. Die Armee kontrolliert Boote und limitiert den Transport von Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff. Es gibt Gemeinschaften, die von bewaffneten Akteuren regelrecht eingekesselt sind.

Die Wehrlosigkeit, das Ausgeliefertsein vieler Gemeinschaften der Pazifikküste gegenüber gewalttätigen Akteuren, welche die Rechte der ursprünglichen Bevölkerung mit Füssen treten, schmerzt. Es ist ein ungleiches Kräftemessen, das da stattfindet. Die Gemeinschaften, die Jahrhunderte in Vergessenheit und sich selbst überlassen in diesem schwierigen Umfeld über-leben gelernt haben, sehen sich plötzlich Gewalten und Interessen gegenüber, die für sie neu sind. Sie leben oft isoliert, ohne Kommunikationsmittel, ohne Zugang zu Gesundheitsversor-gung, Schulen und Medien. Werden sie ihre eigenen, angepassten Entwicklungspläne, die sie Lebenspläne nennen, verwirklichen und ihren Lebensraum vor dem tödlichen Zugriff dieser Mächte schützen können?


Der Computer des Paramilitärchefs Rodrigo Tovar Pupo, alias Jorge 40

Am 8. Oktober veröffentlichte die Zeitung El Tiempo einen ausführlichen Artikel über die Auswertungsergebnisse eines im März 2006 konfiszierten Computers. Dieser war einem Kommandanten abgenommen worden, der Jorge 40 unterstand. Der PC enthielt u.a. eine de-taillierte Liste über 558 vom „Frente José Pablo Díaz“ ausgeführte Morde allein im Departe-ment Atlantico. Alle diese Morde waren zwischen 2003 und 2005 verübt worden, also nach der Vereinbarung des vermeintlichen Waffenstillstandes im Dezember 2002. Weitere vielsa-gende Ergebnisse der Datenauswertung des PCs:
- Vom Frente José Pablo hatte man bisher nie gehört; er gehört auch nicht zu den „demo-bilisierten“ Einheiten der AUC.
- Unabhängige Menschenrechtsgruppen hatten nur einen kleinen Bruchteil der Morde der AUC im Dep. Atlantico registriert. So u.a. die Ermordung des Universitätsprofessors Alfredo Correa de Andreis am 17. September 2004, kurz nach seiner Freilassung aus willkürlicher Haft.
- Die Paramilitärs verlangten von öffentlichen Institutionen – Spitälern, Bürgermeister-ämtern, Gesundheitszentren, Schlachthöfen – 10% Abgaben. Insbesondere die Spitäler wurden zur wichtigen Einnahmequelle der paramilitärischen Mordmaschinerie.
- Es werden Drogenexportrouten nach Europa aufgezeigt und hohe Beamte staatlicher Sicherheitsdienste erwähnt, die mit den AUC [Paramilitärs] bei den Drogentransporten zusammen arbeiten. Da taucht ein altbekannter Name wieder auf: Carlos Arturo Ma-rulanda, ehemaliger Botschafter Kolumbiens bei der Europäischen Union und bekannt wegen seiner Verwicklung in die gewaltsame Vertreibung von Bauern der Hacienda Bellacruz.
- Die völlige Parodierung der angeblichen Demobilisierung: Jorge 40 ordnet in einem mail an, gewöhnliche Leute für die Demobilisierung zu rekrutieren und diesen das Marschieren, die Hymne der AUC und die Antworten auf die Fragen der Staatsan-waltschaft einzutrimmen. Von den am 8. März 2006 in Valledupar demobilisierten 2'500 Paramilitärs von Jorge 40 waren über die Hälfte solche in aller Eile rekrutierte „Paramilitärs“.
- Die enge Verbindung der Paramilitärs zu namentlich genannten regionalen Politikern und Kongressabgeordneten.

Die Nachricht zeigte mit aller Deutlichkeit auf, dass die Paramilitärs auch nach dem Waffen-stillstand weiter morden, politische, soziale und wirtschaftliche Kontrolle ausüben, den Dro-genhandel kontrollieren, von staatlichen Institutionen Abgaben einfordern. Die Demobilisie-rung ist eine Farce.
Hier hätte ein Aufschrei durch das Land gehen müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Die Nachricht wird als eine mehr zur Kenntnis genommen – niemand glaubt wirklich an diesen Demobilisierungsprozess. Wo immer wir die Frage nach der Demobilisierung stellen, die Antwort ist immer die gleiche: Ein müdes Lächeln und die Gegenfrage: „Welche Demobili-sierung?“ Die Enthüllung der Auswertung des PCs bestätigt einmal mehr, was längst bekannt ist. Und alle sind sich bewusst: Das ist bloss die Spitze des Eisberges. Der PC enthielt nur die Daten des vergleichsweise kleinen Departements Atlantico, nicht aber der ebenfalls von Jorge 40 dominierten Departements César, Magdalena, Sucre und Guajira. – Die Abnormität als Normalität.

Zehn Tage später fand auf Verlangen der linken Sammelpartei Polo [democrático] eine Kon-gressdebatte über den Friedensprozess mit den AUC und die Verwicklung von Politikern mit dem Paramilitarismus statt. Die Debatte wurde live auf dem TV Canal institucional übertra-gen. Zufälligerweise [!?!] fiel genau zu dieser Zeit die TV-Übertragung in den Departementen Sucre und Córdoba – Hochburgen des Paramilitarismus – aus.


Droht dem Polo das gleiche Schicksal wie der UP [Unión patriótica]?

Am 4. Oktober 06 wird der Student Andrés Julian Hurtado vor seiner Wohnung in Cali mit Schüssen in den Kopf getötet. Die Mörder fliehen in einem bereitstehenden Taxi. Andrés hatte sich im Polo engagiert. Er hatte sich für die Aufklärung der Übergriffe der Polizei gegen Studenten der Uni-Valle eingesetzt und war im Jahr 2004 einer der Mitorganisatoren des indi-genen Marsches nach Cali gewesen. Droht dem Polo das gleiche Schicksal wie der Union Patriotica UP, die über 4000 Mitglieder durch Mord verloren hat? Wir stellten die Frage Ver-treterInnen des Polo. Die Antwort war meist ein erstaunter Blick, ein längeres Schweigen. Und dann werden Argumente gesucht, heute sei die Situation anders, dies könne nicht mehr geschehen. Doch die vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. Zumal die Realität eine andere Sprache spricht, denn Andrés ist nicht das einzige Opfer des Polos.
Wer garantiert dem Polo Sicherheit? Wer verzeichnet die Übergriffe gegen die freie politische Aktivität in dieser „ältesten Demokratie Lateinamerikas“? Wer verfolgt kritisch die Vorgänge rund um die Wahlen? So hörten wir u.a., dass mindestens 1 Mio. Stimmen für Uribe unrecht-mässig zustande kamen. Wo hat man dies in Europa gehört, wo die Legitimität Uribes mit 62% Stimmenanteil unbestritten ist?


Eine Autobombe lässt Hoffnungen platzen...

Es ist Donnerstagmorgen, der 19. Oktober. Wir sind am Treffen mit den Partnern im schweizerischen Friedensförderungsprogramm Suippcol in einem Tagungszentrum im Norden Bogotás mit wunderbarem Blick auf das riesige Häusermeer. Um 8.45 Uhr hören wir eine Explosion, halten einen Moment inne und führen unsere Arbeit weiter. Thema: „Was verste-hen wir unter Frieden? Welchen Friedensansatz vertreten wir? Was sind unsere Friedensvor-schläge?“ Am Mittag erfahren wir, dass eine Autobombe auf dem Gelände der Militärakade-mie explodierte. 23 Menschen wurden verletzt, einige davon schwer. Am nächsten Morgen wird klar, dass diese Bombe alle Hoffnungen auf einen humanitären Austausch von Entführten in der Hand der FARC gegen inhaftierte Guerilleros und einen möglichen Friedensprozess mit der FARC in Schutt und Asche begraben hat. Ein wutentbrannter Präsident – unter einem improvisierten Zeltdach am Tatort selber – verkündet den „Krieg gegen die Terroristen bis zum Sieg!“ Die von Radio und TV live übertragene Rede lässt mich erschauern. Hier spricht ein Präsident, der bereit ist, sein Land und seine Bevölkerung in den Abgrund zu führen, der jegliche Sensibilität verloren hat. Er kündigt die militärische Befreiung der Entführten an, entzieht den befreundeten Ländern und allen Beauftragten die Autorisierung zu Gesprächen und Kontakten mit der FARC (darunter auch der aktiv vermittelnden Schweiz) und fordert demgegenüber die internationale Gemeinschaft auf, Kolumbien militärisch zu unterstützen. Die FARC-Kommandanten beschuldigt er, sich in Ecuador und Venezuela versteckt zu halten. Damit steht dem Land Krieg, Krieg und nochmals Krieg bevor.

Fragen über die tatsächliche Urheberschaft des Attentats sind angebracht. Welches Interesse kann die FARC an diesem Anschlag haben? Kann ein vermeintlich abgehörtes Telefongespräch zwischen einem FARC-Milizionär und dem Kommandanten Mono Jojoy als einziger Beweis ausreichen? Wie kommt es, dass in einem derart abgesicherten Sperrbezirk der Armee eine Autobombe platziert werden und der Fahrer unbemerkt verschwinden kann? Hat der flüchtige Chef der Paramilitärs, Vicente Castaño, oder haben Drogenhändler ihre Hand im Spiel, die ihre Auslieferung an die USA befürchten? Handelt es sich wieder um einen von der Armee selbst initiierten Anschlag? Vor den Präsidentschaftswahlen hatte die Armee selber Attentate von gefangenen Guerilleros ausführen lassen, um so positive Ergebnisse in der Terrorbekämpfung vorweisen zu können. Alles ist möglich – und Lügen sind das Normale.


Ein Land in der Amnesie – Desinformation als Normalität

Auf meinen Reisen gehören die Nachrichten in Fernsehen und Radio wenn immer möglich zum Pflichtprogramm. Doch der Mix, der da als Nachrichten präsentiert wird, ist schlicht un-erträglich, unverdaulich. Meldungen aus Politik, Sport, Showbusiness, Internationales, Natio-nales, Wirtschaft, Werbung – alles reiht sich völlig unzusammenhängend aneinander. Dieser Brei deckt einen zu, lässt einen verwirrt zurück. Bei der Presse gibt es einzelne löbliche Aus-nahmen, insbesondere in den Wochenzeitschriften wie Semana. Doch es wird klar: Ohne di-rekten Kontakt zu Leuten in den betroffenen Regionen kann man sich kein Bild der Realität machen, zumal grosse Teile des Landes gar nicht zu existieren scheinen, es sei denn, es gäbe eine Katastrophenmeldung oder Nachrichten über Erfolge der Armee im Kampf gegen die „Terroristen“.
Der TV Canal Institucional überträgt live die Parlamentsdebatten und auch die Gemein-schaftsräte des Präsidenten. Ich verfolge über gut zwei Stunden den in Puerto Asís im Dep. Putumayo am 7. Oktober abgehaltenen Gemeinschaftsrat. Eindrücklich, wie da Präsident Uri-be wie ein Übervater anordnet, Befehle erteilt, mit Zahlen um sich wirft, hemdsärmlig, präsent. Die Manipulation wird spätestens dann klar, als ein Bauer aufsteht und die Pestizidbe-sprühungen der Kokafelder hinterfragen will. Schon nach einem halben Satz unterbricht ihn Uribe schroff und erklärt mit abgewandtem, zornigem Blick: „Die Ausrottung der Koka ist nicht verhandelbar!“ Sofort erteilt er einem anderen Sprecher das Wort, das Thema wird ge-wechselt und nicht mehr angeschnitten. Die Bevölkerung des Putumayo muss weiterhin im giftigen Sprühregen der international pilotierten Drogenbekämpfungsflugzeuge ausharren – auch wenn alle wissen, dass die Kokaanbaufläche trotz aller Besprühungen landesweit wieder zugenommen hat.
Aufschlussreich auch eine andere Intervention. Ein Vertreter beklagt sich, dass ein durch den Plan Colombia finanziertes Unternehmen nicht im Dienste der Gemeinschaft, sondern von Korrupten und Bewaffneten stehe. Wortwörtliche Antwort des Präsidenten: „Uns interessiert nicht, wer das Unternehmen leitet. Uns interessiert nur, ob es effizient ist!“ – Das Unrecht als Recht.


Und trotz allem – Hoffnung lebt, und wie überall kommt sie von unten!

Inmitten dieser Situation, wo Unrecht die Regel ist, begegne ich Menschen, die sich engagieren, die ihre Würde einfordern, sich nicht unterkriegen lassen, die ihren Verstand brauchen, sich Fragen stellen. Menschen, deren Sensibilität, Herzlichkeit, Wärme, Beharrungsvermögen und Lebensfreude mich immer wieder tief berühren, erstaunen. Es ist diese unerklärliche Kraft, die einen beflügelt, die so wichtig ist, wenn man wieder weit weg in der sicheren Schweiz vor seinem PC sitzt, Protestschreiben aufsetzt, Berichte liest, Telefone führt, lobbyiert und mit seinen bescheidenen Kräften etwas zu bewegen versucht.

Zwei Beispiele von Begegnungen sollen hier stellvertretend für viele stehen:

Sitzung mit dem Nationalen Friedensrat der Indígenas Kolumbiens CONIP. Wir werten den Besuch der Internationalen Überprüfungskommission aus, welche Ende September in fünf Regionen Kolumbiens die Lage der Indígenas untersuchte. Ausgangspunkt war der vor zwei Jahren erstellte Bericht des UNO-Sonderberichterstatters für Indigene Völker, Stavenhagen. An der Kommission nahm im Auftrag der NZZ der Journalist Oswald Iten teil. Er besuchte die Regionen Arauca und Guaviare (siehe auch seine Berichte in der NZZ vom 16. und 21. Oktober 06).
An der Auswertungssitzung fällt auf, wie ruhig, sachlich und engagiert die einzelnen Vertreter und Vertreterinnen berichten. Sie hören einander aufmerksam zu, gehen aufeinander ein, er-gänzen sich gegenseitig. Man spürt, wie ihnen diese internationale Präsenz Mut und Hoffnung gemacht hat. Und der Mut wurde zur Tat: Im Cauca räumten die Indígenas die Sandsäcke einfach weg, hinter denen sich die Polizei in den Dörfern Toribío und Jambaló verschanzte. „Die Polizei missbraucht uns als menschliches Schutzschild“, erklärten die Indígenas. Das Verfassungsgericht hatte vergeblich die Räumung verlangt.
Der CONIP ist sich aber bewusst, dass es jetzt an ihm liegt, mit den Kommissionsteilnehmen-den in Kontakt zu bleiben und die anstehenden Aufgaben anzugehen.
In all den Gesprächen mit den Indígenas erstaunt immer wieder ihr geschichtliches Bewusst-sein und ihre Weitsicht. Und noch etwas fiel mir auf – so auch an dieser Sitzung, wo von viel Leid die Rede war: Die Indígenas haben Humor. Wir haben auch viel gelacht, auch über uns selber. Und das tut gut!

Das zweite Beispiel betrifft ein Gespräch mit einem Vertreter der Bauernvereinigung des Ca-rare-Flusses ATCC im Magdalena Medio. Ich wusste, dass anfangs der 90er Jahre die Journa-listin Silvia Duzán und drei Führungsleute der ATCC von Paramilitärs ermordet worden wa-ren. Die ATCC war kurz zuvor mit dem Alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet wor-den. Nach diesen Morden hörte ich nichts mehr von der ATCC. An einem Treffen mit Suipp-col Partnern nahm auch ein Vertreter der ATCC teil. Ich war gespannt zu hören, was aus die-sem Prozess nach den Morden geworden war. Und je länger ich mit Donaldo, dem Vertreter von ATCC sprach, umso mehr kam ich aus dem Staunen und der Bewunderung nicht mehr heraus. Die ATCC hat sich kontinuierlich weiter entwickelt, sich ein fundiertes Wissen und eine Praxis in Konfliktmediation angeeignet und es verstanden, inmitten des hart geführten Krieges im Magdalena Medio ihre Unabhängigkeit und Autonomie zu wahren. Dies war nur möglich, weil gemeinsam klare und transparente Handlungskriterien erarbeitet und gelebt wurden. Aber nicht nur was Donaldo erzählte, berührte mich, sondern auch wie er es erzählte: Ruhig, bestimmt, bescheiden.
Donaldos Worte spiegeln die Kraft, die aus der Erfahrung, der gemeinsamen Reflexion, aus den Prozessen an der Basis kommt. Auf ihnen beruht die alleinige Hoffnung auf ein lebbares Kolumbien für alle, wo die Rechte der einfachen Leute nicht mehr mit Füssen getreten werden und das Land nicht als verkäufliche Ware betrachtet wird – wo Unrecht nicht mehr Recht ist.